Wie ich Vicky kennenlernte

Seit der Nacht vor meinem Abflug, war es das erste Mal, dass ich nicht einschlafen konnte. Ich lag im Bett und musste mich erstmal sammeln. Was war hier denn gerade abgelaufen?

Zuerst hatten sich meine nächtlichen Treffen mit Lena vom harmlosen Kuscheln innerhalb einer halben Stunde zu Heavy Petting gesteigert und dann sind wir dabei auch noch fast von meiner Gastmutter erwischt worden. Wirklich nur fast? Hatte uns Rita wirklich geglaubt, dass Lena nur eingeschlafen war oder hatte sie gehört, wie wir uns angezogen hatten? Und hatte sie Lena nicht ohnehin bereits davor stöhnen gehört?

Und plötzlich überkamen mich auch Schuldgefühle gegenüber Tanja. Ok, ich hatte eigentlich nichts verbotenes getan. Wir hatten schließlich explizit ausgemacht, dass wir etwas mit anderen anfangen durften. Aber, ob sie es so toll fand, zu erfahren, dass ich nach ein paar Wochen gleich die Erstbeste nehme? Und sollte ich ihr eigentlich davon erzählen? Darüber hatten wir gar nicht gesprochen. In Deutschland noch war das alles so theoretisch gewesen. Ich wollte die Freiheit haben, tun und lassen zu können, was ich will, aber ob es überhaupt dazu kommen würde, stand damals komplett in den Sternen.

Ich lag also die ganze Nacht lang wach, stellte mir unzählige Fragen und ging alle möglichen Optionen durch. Am nächsten Morgen hatte ich zwar gefühlt keine Minute geschlafen, aber wenigstens wusste ich, wie ich vorgehen wollte. Tanja sollte erstmal nichts von Lena erfahren bzw. nicht mehr als sie bisher wusste, nämlich dass Lena nett war und vorläufig auch bei uns wohnte.

Und falls Rita noch Zweifel an unserer Geschichte hatte und uns fragte, woher die Geräusche waren, hatte ich mir auch eine gute Ausrede ausgedacht.

Ich hatte mir aus Deutschland meine Drei Fragezeichen — Kassetten mitgenommen, die ich ab und an gerne zum Einschlafen hörte. Ich würde ihr erzählen, dass wir die gestern Abend angehört hatten und diese Folge sehr laut war. Ich legte also morgens schnell eine besonders gruselige in den Kassettenspieler, in der immer mal wieder geschrien wird, nur für den Fall, dass Rita auf die Idee kam, in dem Kassettenspieler nachzugucken. So konnten wir auch perfekt erklären, wie es dazu kam, dass Lena bei mir unten eingeschlafen war.

Kurz darauf trafen sich alle in der Küche zum Frühstück. Ritar hatte an diesem morgen Gott sei Dank weder Pancakes noch French Toast gemacht, denn sie war eine schrecklich Köchin. Alles triefte vor Öl und woher auch immer sie ihre Rezepte dazu hatte — es schmeckte ganz und gar nicht noch dem, was es angeblich sein sollte.

Rita erklärte uns während wir uns die Brote schmierten, den Plan für den Vormittag. „Morgen kommen uns ein paar potenzielle Gasteltern besuchen, also mzss hier alles tiptop aussehen und wir müssen Essen einkaufen. Stephan und Julia, ihr helft meinem Mann, Pete, dabei das Haus zu putzen. Lena und Thomas, ihr fahrt mit mir zum Einkaufen.“ Ah, geschickter Schachzug von Rita. So konnte sie uns in Ruhe aushorchen, ohne das Julia und Stephan etwas davon mitbekamen.

Nach dem Essen gingen wir alle Zähneputzen und Lena und ich klärten die beiden anderen schnell auf. Ich erzählte Ihnen auch von der Ausrede die ich mir zurecht gelegt hatte, damit für den Fall der Fälle alle Bescheid wussten. Stephan und Julia hatten natürlich schon mitbekommen, dass ich mich mit Lena wirklich sehr gut verstand und sich da was anzubahnen schien. Und wir waren inzwischen schon ein eingeschworenes Team, so dass wir sicher sein konnten, dass Stephan und Julia dicht hielten.

Auf der Fahrt zum Supermarkt fackelte Rita auch nicht lange und sprach die letzte Nacht direkt an. Lena und ich erzählten abwechselnd meine Geschichte und als wir fertig waren, schien Rita zufrieden. „Ok, ich hatte mich schon gewundert. Vor allem weil du doch eine Freundin hast Thomas“. Das wusste sie wohl noch von meinem Vorstellungstext, den ich noch in Deutschland für potenzielle Gasteltern geschrieben hatte. Ich lies ihre Erklärung mal so stehen, konnte aber aus den Augenwinkeln sehen, dass auch Lena sich ein Grinsen nur schwer verkneifen konnte.

„Ich bin ja auch ganz offen was so etwas angeht“, fuhr Rita fort. „Viele Eltern in Amerika sind da total verklemmt und erlauben ihren Kindern gar nicht mit einem Partner alleine zu sein. Und Sex vor der Ehe ist oft tabu.. Ich bin da viel liberaler. Aber nachts zusammen in einem Bett zu schlafen, das geht mir auch zu weit, egal ob das bei euch zuhause in Ordnung ist. Und wenn ihr abends alleine sein wollt, dann muss die Zimmertür zu jeder Zeit offen stehen.“

Hm naja, mir war nicht ganz klar, was daran jetzt so viel liberaler war. Aber zumindest waren wir fürs erste fein raus, auch wenn wir jetzt natürlich sehr vorsichtig sein mussten.

Als wir vom Einkaufen zurück kamen, waren Pete, Stephan und Julia bereits mit dem Hausputz fertig. Das lag zum großen Teil daran, dass Rita den halben Supermarkt leer gekauft hatte und wir über drei Stunden unterwegs waren.

Am nächsten Tag wurde groß gekocht, wobei allerdings glücklicherweise Pete den Chefkoch gab und Abends trudelten vier Elternpaare bei uns zum Essen ein. Es war insgesamt ein durchaus schöner und lustiger Abend und wir alle lachten viel. Nach dem Essen, gab es noch ein Gespräch unter den Erwachsenen und wir verzogen uns auf unser Zimmer. Lena und ich überlegten natürlich gemeinsam, wie wir nun weiter vor gehen wollte. Pete war Lastwagenfahrer und daher meist nur am Wochenende zuhause. Und Rita war berufstätig und daher den halben Tag außer Haus. Dummerweise war ihr Büro aber in der gleichen Straße wie unser Haus und sie kam immer mal wieder vorbei um Sachen zu holen und nach uns zu schauen. Stephan hatte die rettende Idee. Wenn wir uns in meinem Zimmer alleine sein wollte, gingen er und Julia in den Garten. Von da war die Straße zu sehen und so konnten sie uns warnen wenn Rita im Anflug war.

Als uns Rita allerdings wieder ins Wohnzimmer holte, stellte sich heraus, dass die Geschichte zwischen Lena und mir schon aufhören sollte, bevor sie richtig begonnen hatte. Drei der Elternpaare hatten sich dazu entschieden, je eines der Kinder bei sich aufzunehmen. Stephan kam bei Freunden von Rita und Pete unter, die auch in Northwood wohnten. Die Gasteltern von Lena und Julia kamen jedoch aus anderen Städten. Da wir alle keinen amerikanischen Führerschein hatten, war damit quasi ausgeschlossen, dass wir uns noch mal treffen konnten, ohne das irgendein Erwachsener dabei war.

Der Abschied war natürlich hart. Wir vier hatten uns alle richtig gut angefreundet und vor allem Lena und ich hatten uns ein wenig ineinander verguckt. Wenn ich ehrlich bin, war ich aber auch ein bisschen erleichtert. Wäre das zwischen Lena und mir noch weiter gegangen, hätte ich Probleme gehabt, die Vereinbarung mit Tanja, dass wir keinen Sex mit anderen haben, aufrechtzuerhalten.

Und in den USA mit einer Deutschen zusammenzukommen, würde bestimmt weder dazu führen mein Englisch zu verbessern, noch viele neue Freundschaften aufzubauen.

Nach dem die beiden Mädels weggezogen waren, telefonierte ich zunächst noch ab und zu mit Lena, aber auch das war schnell zu Ende. Dafür freundete ich mich mit Stephan immer besser an. Wir waren quasi unzertrennlich und als der Schulanfang vor der Tür stand, hatten wir nicht nur die meisten Kurse zusammen, sondern spielten nachmittags auch gemeinsam im Fußballteam der Schule. Wir lernten außerdem schon ein paar zukünftige Mitschüler und Mitspieler kennen und trafen uns mit diesen.

Schließlich war es so weit – der erste Schultag. Stephan und ich nahmen den gleichen Schulbus, der bei jedem Schüler direkt vor der Einfahrt hält. An der Schule angekommen, bekamen wir einen Spind zugewiesen, in dem wir unsere Schulsachen verstauen konnten und ein Schloss dafür. Den Spind hatte ich schnell gefunden, mit dem Schloss wusste ich allerdings überhaupt nichts anzufangen. Es hatte keinen Schlüssel sondern ein Rad, an dem man drehen konnte, mit Nummern drumherum. Auf der Verpackung standen zudem drei Zahlen. Ich versuchte ein paar Mal nacheinander die Zahlen anzusteuern, aber das Schloss wollte nicht aufspringen.

Hilfesuchend schaute ich mich um. Neben mir stand ein Mädchen mit rotbraunen Haaren, dass mir den Rücken zugedreht hatte. Ich tippte ihr an die Schulter und bereute es im nächsten Moment. Das Mädchen drehte sich um und funkelte mich böse an. Mir blieb das Herz fast stehen. Vor mir stand das schönste Geschöpf, dass ich je gesehen hatte. Die Augen, die mich so böse anfunkelten, waren tiefblau. Sie hatte leichten türkisfarbenen Lidschatten und rosa Lippen. Dazu gesellten sich ein paar leicht angedeutete Sommersprossen um ihre Nase. Zudem hatte sie mit knapp 1,60m auch noch die perfekte Größe.

„Na super, Thomas“, dachte ich mir. „Die absolute Traumfrau ist deine Spindnachbarin, und du machst dich gleich vor ihr zum Affen, weil du zu dumm dazu bist, ein Schloss aufzubekommen.“

Da sie mich fragend ansah, sagte ich schließlich kleinlaut: „Entschuldige, dass ich dich störe, aber ich komm hiermit nicht klar“. Ich deute auf das Schloss. „Wie bekomm ich das denn auf?“

Mit einem Schlag war das böse Funkeln aus ihren Augen verschwunden und ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Mein Gott, so sah sie noch hinreißender aus.

Sie nahm mir das Schloss und die Verpackung aus der Hand und erklärte mir, dass man das Rad erst zwei Umdrehungen nach rechts, bis zur ersten Zahl, dann zwei Umdrehungen nach links bis zur zweiten Zahl und dann wieder zwei Mal andersherum bis zur letzten Zahl drehen muss. Ich versuchte es und das Schloss sprang auf. „Woher kommst du eigentlich“, fragte sich mich, während wir unsere Bücher in den Spind räumten? Mein Akzent war wohl nicht zu überhören. „Ich äh.. komme aus Deutschland. Und ich äh.. heiße übrigens Thomas“, stammelte ich.

Mir war echt nicht zu helfen. Ich stellte mich wie der letzte Depp an. Aber sie strahlte mich weiter lächeln an. „Na dann, Thomas aus Deutschland, sehen wir uns ja jetzt öfter“, grinste sie und ließ mich einfach so stehen. Ich schaute ihr hinterher und sie drehte sich noch mal um. „Ich heiße übrigens Vicky.“

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